E S S A Y S  > Gypsy Queens

Naßkalter Spätherbst in Budapest. Am Stadtrand stehen wir auf einem matschigen Bürgersteig und schmunzeln über den fünfrassigen Hund, der zum dritten Mal ohne Erfolg sein Bein an den platten Reifen einer alten Limousine amerikanischer Bauart hebt.

Christian Scholze mit Ezma Redjepova

Eine Katze schleicht sich an zwei turtelnde Tauben. Wie vom Teufel verfolgt rast ein Junge über die Straße und stolpert über den ungeraden Kantstein. Zu lachen gibt es in dieser Stadt mit den monumentalen monarchischen Bauten zur Zeit ohnehin wenig. Mitsou wirkt traurig und erzählt: „Meine Tochter hat geweint, als ich heute früh das Haus verließ. Wir sind gerade von einer Tournee zurück, jetzt jeden Tag ins Studio, sie beklagt, daß ich so selten zu Hause bin. Ich möchte eine gute Mutter sein, aber ich liebe auch meinen Beruf als Sängerin. Es ist schwer, beides unter einen Hut zu bringen. Für manche bin ich gar eine Rabenmutter. Diese Vorwürfe tun weh. Die Rolle der Frau bei uns Roma ist ja klar definiert. Schon früh, zumeist mit etwa 16 Jahren, wie bei mir, kommt das erste Kind, dann weitere Kinder, du hast daheim alles zu erledigen, der Mann irgendwo unterwegs. Erst im Alter kommst du zur Ruhe, jüngere Frauen fegen dann die Kippen der Männer vom Fußboden, du bist mit all deinen Erfahrungen, die Hunderte tiefe Falten in dein Gesicht geprägt haben, eine Respektsperson ... Ich stand also vor dieser Alternative, habe mich für die Musik entschieden und lebe nun bei meiner Mutter. Leider schaffen diesen Schritt wenige Frauen bei uns. Viele künstlerische Potentiale kommen dabei nie zur Entfaltung. Ich sehe das bei unseren Kinder- und Schreib-Workshops. Eine sehr kunstvolle Poesie erscheint da bei den Mädchen und Frauen mit einer spielerischen Leichtigkeit.“ Mit dieser kleinen Öffnung ihres Herzens hatte Mitsou ungeahnt in wenigen Minuten die Ergebnisse mehrerer soziologischer Studien über die Rolle der Frauen bei diversen Zigeuner-Kulturen zusammengefaßt.

Ein Journalist hatte vor der Reise zu den Gypsy Queens vor überzogenem Romantismus und Exotismus gewarnt. Ja, es gibt das Klischee der feurigen Zigeunerin als exotisches Versatzstück interkultureller Falschmünzerei, strapaziert in der Werbung, im Film, in der Malerei. Die tanzende wilde Schönheit mit wehenden, langen schwarzen Haaren, die Bluse halb geöffnet, mit sinnlichen Blicken und zarten Schweißperlen auf der dunklen Haut. Sie verführt zu einem Produkt, wird von einem Multimillionär entführt und in dessen Schloß geehelicht oder lädt in pittoresken Farben zu erotischen Phantasien, die aus dem geheimen Garten der Lüste stammen, ein. Kritik an dieser Exotisierung und überstilisierenden Herauslösung von Menschen aus ihrem Lebenskontext ist berechtigt. Doch die Kritik des Exotismus greift in ihrer schmalspurigen Konzentration auf Projektions- und Herrschaftsmechanismen in der Regel zu kurz. Die repetitiven Lebensmuster hochindustrialisierter Gesellschaften mit ihren technologisierten, auf Dauer apathisierenden und vereinzelnden Kulturinstitutionen erzeugen zwangsläufig die Frage und die Suche nach Sinn und Sinnlichkeit, provozieren gedankliche und reale Reisen in exotische Erlebniswelten. Die Exotismuskritik reduziert diese Reiseerfahrungen in ihrer psychoanalytischen oder strukturalistischen Sichtweise auf die Wiederbelebung frühkindlicher Trennungstraumata oder auf den unmöglichen Schattensprung über den eigenen, lokalen Erfahrungshorizont. Es bleibt aber ausgeblendet, daß aus der Berührung mit dem Fremden, mit anderen Formen der Leidenschaft, mit einem völlig anderen Raum-Zeit-Gefüge produktive Auseinandersetzungen und Veränderungen des eigenen Lebensraumes, gar der gesellschaftlichen Strukturmechanismen erwachsen können. Hier kann die interkulturelle musikalische Begegnung, wenn sich wirklich beide Seiten nahe aufeinander und aneinander einlassen, hochpolitisch sein – diesseits der marionettenhaften Pop-Industrie. Eine Verständigung über die Möglichkeiten offener Erfahrungsräume bei interkulturellen Begegnungen – ohne schützende, zuweilen gar xenophobische Klischees – steht an. Die Zeiten sind eigentlich günstig dafür.

Die hier vorgestellten Queens der Zigeunermusik lieben ihre Kunst, leben für ihre Musik und freuen sich auf die Berührung mit dem Publikum. Sie wünschen sich nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Skopje in Mazedonien, die graue Stadt der Extreme: im Winter ungemütlich kalt und meist verschneit, im Sommer unerträglich heiß. Die vielen Soldaten im Flugzeug bei der Anreise, die Hinweisschilder auf die Entfernungen nach Pristina/Kosovo und nach dem irgendwie immer nahen Belgrad verweisen auf die nicht ungefährliche Lage dieser Stadt. Dazu die Gefahren der Natur. 1963 zerstörte ein Erdbeben große Teile der Stadt, es gab Tausende von Toten. Besonders betroffen waren die in der Altstadt lebenden Zigeunerfamilien. Die Regierung stellte in einem Hilfsprogramm für diese Familien außerhalb von Skopje, in einem neu errichteten Stadtteil, Häuser zu Verfügung. Viele Familien und Clans aus den umliegenden Regionen zogen in Kürze dorthin. Es entstand Shutka, mit knapp 50 000 Einwohnern die heute größte Roma-Kolonie in Europa. An der Hauptstraße eine endlose Kette von kleinen Geschäften, in denen es bis auf Ladenschlußzeiten alles zu geben scheint. Dahinter ein unübersichtliches Gewirr von kleinen Straßen und Gassen. Es gibt mehrere private Radiosender und zwei Fernsehkanäle, in denen elektronisch geprägte Musik dominiert. Besonders beliebt sind Karaoke-Sendungen mit enorm herausgeputzten Kindern zwischen 6 und 12 Jahren.

Esma Redzˇepova stammt aus Skopje. Ihr Vater war Schuhputzer. Esma trug ihm die Schuhputzkiste zum und vom Arbeitsplatz, versorgte die anderen Schuhputzer mit Schuhcreme und hatte den Spitznamen „die Post“. Der Vater hatte im zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff auf Skopje ein Bein verloren; zuvor war er ein kräftiger Lastenträger, von dem man noch heute erzählt, daß er einen Panzerschrank alleine zu tragen vermochte. „Wenn der Vater das Lied meiner Kindheit war und einem Helden aus einem Zigeunermärchen ähnlich sah – so stark und schön, ein guter Sänger und ein großer Zecher, aber sanft und nachgiebig zu uns sechs Kindern, leicht zu Tränen zu rühren, aber auch zum Lachen zu bringen –, so war meine Mutter diejenige, die uns bändigte und rügte und vor der wir alle ein bißchen Angst hatten.“ Schon früh brachten ihre musikalischen, tänzerischen und schauspielerischen Talente sie auf die Bühne. Mit 11 Jahren spielte sie eine Hauptrolle bei einem Musical in der Schule. Mit 14 Jahren gewann sie einen bedeutenden Wettbewerb für Nachwuchstalente. Hier wurde sie von dem berühmten Musiker, Arrangeur, Komponisten und Bandleader Stevo Teodosievski entdeckt. Er versprach Vater und Tochter eine große Karriere, erklärte aber klar, daß viel Fleiß und Disziplin auf dem Weg dorthin erforderlich seien und erhielt schließlich die Erlaubnis, Esma mit nach Belgrad zu nehmen. Eine fast traumhafte Karriere begann. Das Ensemble von Stevo und Esma wurde eine der erfolgreichsten und beliebtesten Musikgruppen des Balkans. Sieben Jahre nach der ersten Begegnung heirateten die beiden. Es folgten weltweite Tourneen, über 400 Schallplattenaufnahmen, mehrere Auszeichnungen. Ein opulentes Buch über das Leben der beiden ist voll mit fotografischen Dokumenten von Begegnungen mit prominenten Politikern und Schauspielern aus der ganzen Welt. Stevo und Esma adoptierten 47 (!!) Waisen- und Straßenkinder, denen sie allen eine musikalische Ausbildung gaben. Nach Stevos Tod, der für Esma zunächst kaum zu verkraften war und sie fast ins Kloster geführt hätte, setzte sie ihre Karriere ohne ihn fort. Heute lebt sie in einem schloßähnlichen Haus, das sie als „Home of Humanity and Museum of Music“ einrichten und später der Nachwelt stiften möchte. Das Ensemble für diese Aufnahmen bestand vorwiegend aus ihren Söhnen. Und wenn es bei dieser familiären Atmosphäre manchmal zu ausgelassen zuging, dann erinnerte Esma an Stevos Forderung nach Disziplin. Mit einem entschuldigenden und versöhnlichen Kuß auf Mamas Wange war der musikalische Friede wiederhergestellt.